9/11 - das Herz, ein dunkler Wald

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Es ist Dienstag, der 11.09.2001. Ich sitze in einem der Meetingräume von Schloss Reinhartshausen in Eltville. Zusammen mit 20 anderen Partnern, darunter vielen amerikanischen, arbeiten wir seit gestern am Entwurf neuer Marketing/Sales Campaigns und Value Offerings für unsere weltweiten Consulting-Kunden. Nachdem die Dotcom-Blase vor einem Jahr geplatzt ist, halten viele Firmen ihre Investitionen und Projektvorhaben zurück. Die Auswirkungen spüren wir auch im IT-Consulting deutlich und es ist nun unsere Aufgabe, in diesem Workshop neue Wege zu finden, wie wir unseren Kunden helfen können, die Krise zu überstehen und gestärkt aus ihr hervorzugehen.

Das Handy eines amerikanischen Partners klingelt. Er sitzt mir gegenüber und ich sehe, wie seine Gesichts­züge entgleiten. Er schaut ungläubig, legt das Handy weg, steht still auf und schaltet stumm den Fernseh­bild­schirm im Meeting­raum an. Jeder im Raum spürt, dass etwas Ungewöhnliches passiert ist, etwas mit einer unaufschiebbaren Dringlichkeit, etwas, das sehr viel wichtiger ist als Service Offerings. Im Fernsehen sehen wir in Wiederholungen den brennenden Nordturm und die entsetzten Schreie der Leute auf den Straßen.

Ich schaue in die zweifelnden, leichenblassen Gesichter der anwesenden Amerikaner, bin selbst wie in Trance: noch vor kurzem wohnte und lebte ich über ein Jahr in New York, leitete ein großes Merger-Projekt und arbeitete die letzten 6 Monate im Nordturm. Ich kenne die Menschen dort, die Aufzugführer, die Orangen­saft­verkäuferin im Basement, die Barkeeper im Windows on the World, die vielen Banker in den oberen Etagen. Ich kenne die, die dort gerade sterben.

Das zuvor lebendige Meeting erstirbt. Alle sammeln sich um den schräg aufgehängten Bildschirm und starren gebannt auf die Live-Bilder. Nur Sekunden später brennt sich die zweite Maschine in den Südturm und es ist, als wenn mir jemand tief ins Herz sticht. Ich habe lebendige Bilder vor Augen, von dem, was sich dort jetzt abspielen muss. Der Workshop endet schnell — die Kreativität ist erstickt durch tiefe Trauer. Keine Kraft für Worte.

Einsame Fahrt nach Hause. Soviel Gedanken. Soviel Schmerz. Und Wut. Ich muss tanken und halte an einer Tankstelle bei Wiesbaden. Beim Bezahlen sehe ich im laufenden Fernseher an der Kasse, wie Menschen aus den Türmen in den Tod springen. Mein Herz ist ein dunkler Wald. Ich habe keine Erinnerung, wie und wann ich nach Hause gekommen bin.

I will never forget!
Neon!

NYC Love

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Selbst ohne persönlichen Bezug, hat sich dieses Ereignis, die Bilder davon tief eingebrannt ins Gedächtnis, so dass man sie nie mehr vergessen kann. Wie viel schlimmer muss es sein, wenn da mehr ist. 🖤

(An den Tag erinnere ich mich auch noch ganz genau. Ich war bedingt durch das kleine Monster im Homeoffice. Neben meinem regulären Angestelltenjob war ich auch selbstständig tätig. Von dieser Seite bekam ich einen Anruf: „Schalte sofort den Fernseher ein!” Es war eine Liveberichterstattung nach dem ersten Flugzeug-Attentat. Während des Gesprächs erfolgte das zweite. Ein so langes Telefonat mit so viel fassungslosem Schweigen hatte ich bisher nie gehabt. Und ich hoffe, dass es so etwas auch nie wieder geben wird.)
Aus Sicht der Attentäter war es, wenn man so will, der perfekte Anschlag. Mit Mitteln und auf Wegen, die niemand auf der Rechnung hatte, den größtmöglichen (inter)nationalen Schmerz zu erzeugen und die Amerikaner zu einem dekadenlangen Krieg zu provozieren, der am Ende Muslime und Christen noch weiter voneinander entfernt hat und zum verstörenden Abschluss eine ganze Generation hoffnungsgläubiger Afghanen verrät und enttäuscht. Und am Ende geht alles wieder von vorne los, wenn nun Afghanistan erneut zum Heimatzielland für alle gestörten Glaubenspsychopathen dieser Welt wird. Das ist alles so ermüdend und traurig.
Gestern habe ich Curveball im Kino gesehen und die ganzen Kriege im mittleren Osten erscheinen noch viel absurder. Und so schrecklich diese Anschläge auch waren und was danach folgte bzw. auch, was davor war, so geht es letztendlich „nur” um machtpolitische und vor allem wirtschliche Interessen.
Natürlich gibt/gab es wirtschaftliche und machtpolitische Interessen. Die gibt es immer, und man muss dafür gar nicht so weit schauen. Deswegen ist z.B. auch China DER deutsche Top-Handelspartner, obwohl diese seit 2014 einen "minimalinvasiven Genozid" an den Uiguren durchführen, Zwangssterilisationen und -abtreibungen inbegriffen.

Moraldefinition und -standards sind ein weites Feld und Politiker neigen stets dazu, bewegende Ereignisse für sich zu nutzen und auszuschlachten. Manchen reicht ein Hochwasser im Ahrtal, andere nutzen die Zerstörung national aufgeladener Bauwerke für einen Krieg um Öl. Das reicht aber nicht, um die brutale Vernichtung von 3000 Menschen in 2 Bürotürmen zu plausibilisieren oder gar zu relativieren, aber ich denke, das wollen Sie auch nicht.
Sie denken richtig.
Sehr bewegender Beitrag, danke!

Ich war ja nur im Urlaub vorher dort. Wie viel schrecklicher, wenn man, wie Du, mal dort gelebt hat. Uff. 😔😢

Habe in Deine verlinkten Beiträge reingeschaut.
Von der Firma, bei der ich zu der Zeit tätig war (eine internationale Bank), sind auch ettliche Kollegen:innen in den Türmen umgekommen, allerdings kannte ich davon niemanden. Das war eine schlimme Zeit damals, auch wenn wir in DE weit weg waren.
Danke Alex! Unsere Firma hatte im WTC einige Financial Services Kunden und alle nutzten öfter die oberen Etagen mit den professionellen Meeting-Räumen. Wir feierten dort auch unsere eigene Projektabschlussparty mit dem Kunden. Tatsächlich waren später dort oben 12 meiner Kollegen, als die Türme brannten. Keiner hat es nach unten geschafft.

Ich verlor ein Angebot für ein längeres Anschlussprojekt, weil wir durch einen konkurrierenden Berater massiv unterboten wurden. Im Nachhinein hat mir das wahrscheinlich das Leben gerettet, sonst wäre ich womöglich auch dort oben gewesen.

Manchmal ist ein Verlust doch ein Gewinn.
Nach mehreren verworfenen Versuchen,
einen Kommentar zu formulieren,
wie mich Dein Beitrag bewegt, belasse ich es still.
Lieber Lo, wir kennen uns persönlich und ich weiß, wie einfühlsam und mitfühlend du bist. Danke für das stille Wort.
Danke...
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