Unwissenheit ist eine Gnade

2.Tag
Du sitzt, noch ganz schwach, seitlich auf deinem Krankenhausbett im Dreierzimmer, als ich durch die Tür in das diffus beleuchtete Zimmer trete. Mehr als 4 Stunden hat diese zweite Krebs-OP gedauert. Still sitzen wir uns gegenüber und ich höre mich sagen: "Hey, dein schwarzer Slip wirkt ganz schön sexy zu den weißen Venenstrümpfen - die solltest du mal auf einer deiner Gartenpartys tragen". Müde huscht ein abwesendes Lächeln über dein Gesicht. Wie gerne würde ich dir die Schmerzen im Bauch abnehmen.

7.Tag
Das Fieber kommt und geht. Dein Bauch ist angeschwollen. Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Du übergibst dich quer durchs Zimmer und schaffst es schwer atmend zum Waschbecken, wo es nicht aufhören will. Die Schwester schreit: "So geht das aber nicht, das verstopft ja alles". Ich überlege einen Moment zu lange, ob ich sie gleich erwürge oder ihr erst einen vollen Infusionsbeutel in ihren Hals stopfe - da ist sie auch schon aus dem Zimmer geflüchtet.

9.Tag
Man hat dich verlegt in einen anderen Raum, in dem du nun alleine liegst. Gerade will ich die Klinke niederdrücken, als mich eine neue Schwester lautstark zusammenfaltet, ob ich das Schild nicht lesen könne. Der MRSA Keim in deinem Blut erfordert es ab jetzt, das ich Einmalhandschuhe, Schutzkittel und Mundschutz trage, wenn ich dich sehen will. "Sowas passiert, wenn man im Krankenhaus ist", sagt der müde aussehende Stationsarzt.

12.Tag
Sie haben die Krankenakte nicht richtig gelesen und dir trotz Allergie eine Penicillin-Lösung verabreicht. Innerhalb von 10 Sekunden reagiert dein mit Infusionsleitungen verdrahteter Körper schockartig, du stehst auf und zitterst am ganzen Körper, bis dir die Beine wegbrechen.

3.Woche
Dein Bauch schwillt nicht ab. Dafür werden deine Beine und Füße dicker. Immer mehr Wasser sammelt sich in deinem Körper. Ich habe heute gelernt, was Albumin ist, warum es hilfreich ist in Bezug auf kolloidosmotischen Druck, und was es bedeutet, wenn die Leber beschlossen hat, sich selbst destruktiv umzubauen während die Niere schon einen Stent hat.

4.Woche
Die Wirksamkeit des Penicillin-Ersatzes ist bescheiden. Sie pumpen dich voll mit wasserausscheidenden Tabletten, die Leber und Niere noch weiter belasten. Je tiefer ich in die Welt der Medizin eintauche, um ein wenig zu verstehen, was passiert, desto mehr wundere ich mich, dass sogar mein Körper bislang so problemlos funktioniert hat. Es gibt so unendlich viele Dinge, die plötzlich schief gehen können, dass es einen graust. Unwissenheit kann eine verdammte Gnade sein. Jeder einzelne Tag des fehlerfreien Funktionierens dieses hochkomplexen Mechanismus, den wir Körper nennen, ist in Wahrheit ein unfassbares, nicht nachvollziehbares Wunder.

5.Woche
Du solltest schon längst mit der palliativen Chemotherapie begonnen haben, aber die Ascites und die schlechten Blut-, Leber- und Nierenwerte lassen das nicht zu. Die Leukozytenwerte und damit dein Immunsystem sind auf all-time-low - jede simple und für Normalmenschen ungefährliche Infektion ist ein immenses Risiko. Ich hasse das schrille Piepen des Heparin-Perfusors, wenn die automatische Spritze der Umwelt ihren Leerstand mitteilt.

6.Woche
Das Wasser in deinem Körper ist weniger geworden und du hast begonnen, jetzt täglich 10 Tabletten Xeloda zu nehmen. Du hast anfangs fürchterlichen Durchfall, aber entgegen der Vorwarnung löst sich die Haut deiner Handinnenflächen nicht ab - das ist gut. Es gibt Situationen im Leben, da feiert man Erfolge etwas kleiner.

7.Woche
Du hast dem Arzt gesagt, dass du nach Hause möchtest - und sie lassen dich endlich gehen. Zuhause gibst du mir deinen Entlassungbericht. Dort steht ganz nebenbei, dass die "Resektionsränder der Arteria iliaca an der Aortenbifurkation leider nicht ganz tumorfrei" seien. Du sagst: "Kannst du mal im Internet nachsehen, was das heißt?". "Ja, das mache ich", sage ich und wische mir alleine im Auto die Tränen von der Wange. Zu tief habe ich schon gegraben, als das ich nicht schon weiß, was das bedeutet. Unwissenheit kann eine große Gnade sein. Und für einen kurzen Moment wünsche ich mir, dass mich jemand von der Verantwortung dieses Wissens entbinden möge.

Neon!
Oha.
Schwerer Tobak. Erinnert mich stark an dies hier. Nicht angenehm.

Was soll ich sonst schreiben?
Schreiben Sie, warum behandelnde Ärzte nicht notwendigerweise vorher in die Krankenakte schauen. Oder warum Krankenhauspflegepersonal oft unmotiviert, teilnahmslos, unprofessionell und schlecht ausgebildet ist (Stationskalauer: "Spritzen setzen muss man nur so lange bis man's kann"). Warum Schwestern sich nicht auch an selbst aufgestellte Hygienevorschriften halten. Warum es am Wochenende bis zu 20min dauern kann, bis jemand auf die Notrufklingel am Bett reagiert.

Und bitte bestätigen Sie mir, dass Sie auch deswegen nach Qatar gegangen sind (Ich denke, ich werde bald mit meinem Vater nachkommen).
„Warum muss man überhaupt etwas wissen, vor allem wenn dieses Wissen nichts zu ändern vermag? Erholsamer wäre es sicher ohne Wissen und den damit verbundenen Gedanken.”
Ich habe für mich bereits nachgedacht, ob ich es wissen wollte, wenn ich eine tödliche Erkrankung hätte und die verbleibende Zeit kalkulierbar wäre. Meine Antwort ist ja, und wahrscheinlich auch Ihre - aber ich gebe zu, dass nicht jeder Mensch für die brutale Wahrheit gemacht ist und manche Lebensrestzeit in der Ahnungslosigkeit ruhiger verläuft.
Ja, ich ziehe das Wissen (wider besseren Wissens) vor. Man ist nur so hilflos, wenn es sinnlos ist, weil man eben dadurch nichts ändern kann. Mag das nun die Vergangenheit (die man ja nun definitiv nicht ändern kann, nur die Sichtweise darauf), die Gegenwart oder die Zukunft betreffen.
Das präzise Wissen z.B. um den eigenen Tod ändert sicher nichts am unveränderlichen Ergebnis, aber es gibt einem die Sinnentscheidung, wie und womit ich die Zeit bis dahin verbringen möchte. Insofern ist es nicht sinnlos, sondern sehr entscheidend für die individuelle Lebensgestaltung bis zum Ende.

Klar, im Grunde sollte man jeden Tag bereit sein, ohne Wehmut und retrogradem Bereuen abtreten zu können, aber die alltäglichen Zwänge wie Arbeit und Gelderwerb setzen doch meist die Prioritäten und überlagern die Dinge, die uns eigentlich wichtiger sind.

Oder anders gesagt: Wenn Sie wüßten, dass Sie z.B. in 2 Monaten sterben müssten, würden Sie sich wahrscheinlich keine Minute mehr mit Photoshop und womöglich nicht mal mit Twoday beschäftigen - eben weil dieses Wissen Ihre Prioritäten neu ordnet.
Allgemein ist das ja immer so die Vorstellung, dass man unter solchen Umständen versucht, das zu machen, was man eigentlich schon immer machen wollte bzw. meint, das man dies will. Ich bin mir da nicht so sicher, ob man dadurch nicht noch alles schlimmer macht.
Hm, das kann so sein. Ritualien geben Halt. Vielleicht wird man haltlos, wenn man zuviel ändert.
Mir ist schlecht, ich ignoriere die aufkeimenden Tränen und ich kann mir wohl nur im Entferntesten vorstellen, wie es sich für Dich anfühlt. Das Wissen ist in diesem Fall ist sicherlich zu verfluchen, aber wie oft schimpfen wir auch über Unwissenheit und wollen einfach nur eine Antwort - egal wie sie ausfällt. Ach, Herr Neon. Ich schreibe eh nur unbedeutende Worte, aber so einen Text möchte man einfach nicht unkommentiert stehen lassen. Wir Blogger nehmen teil.
Danke für Deine mitfühlenden Worte, die überhaupt nicht unbedeutend sind. Ich denke, es ist nicht einfach, am Leid anderer "teilzunehmen", wenn man nicht Ähnliches (z.B. in der Familie oder im Freundeskreis) erlebt hat - und ich war auch überhaupt nicht sicher, ob es gut ist, das aufzuschreiben und hier öffentlich zu machen. Aber es ist was es ist und es beschäftigt meine Gedanken sehr. Wo, wenn nicht hier, ist der richtige Platz...
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