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Und so stand ich also an diesem nasskalten Septembernachmittag in seinem verlassenen Garten, alleine, und sah, dass er auch hier fehlte. Äpfel lagen in Scharen am Boden, verfault, ungepflückt, so wie die Pflaumen, die danach schrien, geerntet zu werden. Und plötzlich strömten all diese Erinnerungen auf mich ein, all diese Momente, in denen wir redeten und lachten, und die sich nun schon so weit weg anfühlten. "Ich glaube, ich bin nicht mehr lange hier", sagte er einmal zu mir im Schatten an der großen Hecke, kurz bevor er wieder ins Krankenhaus musste. Und wieder schnürt es mir die Kehle zu, als ich daran denke. Nichts kann man tun und nichts kann man ändern, wenn die Zeit gekommen ist.
Dein Leben hängt an einem seidenen Faden und es taumelt von einem Zufall in den nächsten. Nicht, dass man es nicht beeinflussen könnte: dein Leben ist absolut eine stringente, wohlaufgereihte Kette deiner Entscheidungen, die du minütlich, stündlich, täglich triffst. Aber am Ende des Tages gibt es einen Teil, den du nicht bestimmen kannst, diesen kleinen, überragend-wichtigen Teil, worein du geboren wirst, wen du in deinem Leben triffst, an welchen Krankheiten du erkrankst, welche Unfälle du hast, wieviele Stunden der Arbeitstag deines Arztes bereits hatte, bevor du in den OP kommst.
Es gibt Dinge, die liegen außerhalb deiner Entscheidungs- und Planungskompetenz. Bis dahin kannst du alles richtig gemacht haben, alle Entscheidungen für dich richtig getroffen haben, aber wenn dieser eine Punkt kommt, an dem deine Dispositionen keine Rolle mehr spielen, bist du schneller tot als du es dir je vorstellen konntest. Und verdammt, es ist nicht schön, zu realisieren, dass man nicht Herr des eigenen Masterplans ist.
All diese Dinge gingen mir im Kopf herum und schließlich konnte ich nicht gehen, ohne die mich anschreienden Äpfel und Pflaumen einzusammeln und so zum Zufall in ihrer Geschichte zu werden. Ich sammelte und sammelte, soviel ich tragen konnte, um dem frechen, unerbittlichen Zufall wenigstens ein bisschen entgegen zu setzen. Dann setzte ich mich auf die verwitterte Holzbank, die er vor Jahren selbst gebaut hatte, aß eine Handvoll der Pflaumen, rief mir sein Gesicht in Erinnerung und akzeptierte das Leben als das was es ist.
Neon!
Und...du hast mir ein wenig Angst gemacht. (Schmarrn, ich habe eine Scheiß-Angst!)