Vom Sterben und verpassten Wiedersehen

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Ich googelte ihren Namen. Es ist so, dass Männer in einem bestimmten Lebensabschnitt sorgfältig die Stationen ihres Lebens abgehen, sich wieder in kostbare Erinnerungen hineindenken, besonders jene, die in den wilden, hektischen Zeiten langsam verwischten und versanken. Also suchte ich nach ihrem Namen, denn sie war ein wichtiger Mensch in meinem Leben, und es wäre wundervoll, sie nach fast 4 Dekaden wiederzusehen.

Es war in den 80igern, als wir für 3 Jahre zusammen in der IT eines großen Fashion-Retailers arbeiteten. Sie war eine außergewöhnliche junge Frau Mitte 20, hübsch, mit feuerroten langen Haaren, die sich über den ganzen Rücken schmiegten, klug, humorvoll, modisch, mit unendlich langen Beinen (wenn ich sie küsste, brauchte ich mich nie bücken — das war ziemlich ungewohnt, aber toll). Sie hatte witzige, ungewöhnlich kurze Daumenkuppen, die ich süß fand, die sie aber stets zu verbergen suchte. Und umwerfende Sommersprossen, die ihr unfassbar gut standen. Wir hörten stundenlang unsere Lieblingsplatten, wenn wir uns trafen, Cafe Bleu von Style Council und Songs from the big chair von Tears for Fears, im Sommer lagen wir in Mittagspausen lachend auf der Wiese im Hofgarten und konnten die Hände nicht voneinander lassen, während wir mit einem Auge darüber wachten, dass uns kein spazierender Arbeitskollege erblickte. Abends winkte ich hoch zu ihrem Arbeitsfenster, wenn ich auf's Motorrad stieg, das ich unter dem Vordach des Schauspielhauses geparkt hatte.

Als die Zeit der Entscheidung kam, bestärkte sie mich, den Rat eines externen IT-Beraters anzunehmen, der mir eindringlich ein Studium nahelegte. Sie tat das, obwohl sie sicher ahnte, dass wir (in jenen Zeiten noch ohne Handy und Whatsapp) nur schwer Kontakt würden halten können. Und so trennten sich unsere Wege, die Leben füllten sich mit anderen Prioritäten, Studium, Beruf, weltweite Projekte, Kinder. Wir heirateten, aber nicht einander.

Und also suchte ich nach ihrem Namen, einer aktuellen E-Mail, irgendwas, und ich fand sofort ihre Adresse. Sie war Teil der Todesanzeige auf der ersten Seite der Suchergebnisse. Ein Jahr ist sie tot und es ist schwer, das zu realisieren. Ich bin bestürzt, deprimiert und so traurig, auch wütend auf mich, dass ich es nicht früher versucht habe und wir noch einmal hätten sprechen können.

Ich hoffe, ihre Schwester, deren E-Mail ich fand, wird mir beschreiben, wo sie begraben ist. Es wird ein schwerer Gang werden, mich für meine Tatenlosigkeit zu entschulden und Danke zu sagen für alles, was sie für mich war. Valar morghulis!

Oh, wie ich das kenne und mitfühlen kann...
Danke, lieber Lo. Das traurige Erleben, Freunde und geliebte Menschen (oft viel zu früh) zu verlieren, ist eine sehr bittere Begleiterscheinung des Daseins.
Ja.
Kann Dir sehr gut nachfühlen :-(
Danke, Alex! 🌹
Noch einmal mehr Worte als einen Punkt als Mitgefühl. Ich kann zutiefst mitfühlen, wie das ist. Mit weitaus mehr persönlichen Verbindungen. Es war auch ein Jahr zu spät. Selbstmord. Und mit vielen offenen Fragen, deren Beantwortung für mich eine existentielle Wichtigkeit haben bzw. hatten. Denn ich habe akzeptiert, dass ich diese Antworten nie bekommen werde. Es gab für mich gleichfalls wichtige Gründe, warum ich mich nicht eher auf die Suche nach den Antworten zu diesen Fragen begeben habe. (Mehr per E-Mail oder so.)
Selbstmord ist die sicher noch härtere Variante, weil man sich vorstellt, dass man diesen Schritt noch durch Zuhören und Gespräche vielleicht hätte abwenden können. Ungeführte Gespräche und ungestellte Fragen sind das, was (ohne Hoffnung auf Änderung) überbleibt. Dieses Gefühl hatte ich das erste Mal, als meine Eltern starben. Erst wenn man das ganz realisiert hat, sind da so viele Fragen, die man noch stellen möchte — aber nicht mehr kann. Danke, Frau Araxe [und auch der Punkt hat schon viel bedeutet]!
Stellen Sie sich vor, dass Sie durch Selbstmord einen Menschen verlieren, der Ihnen biologisch am allernächsten steht und mit dem Sie nie ein einziges Wort wechseln konnten, ihn auch nie (bewusst) gesehen haben, weil es ein Jahr zu spät war ...
Wie schon geschrieben gab es dafür Gründe, aber es gab dennoch lange Zeit Zweifel, ob es nicht doch Wege gegeben hätte. Aber das ist für mich inzwischen ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit, die ich ja nicht ändern kann. Ich habe gelernt mit diesem Ballast zu leben (der jedoch nur die Spitze des Ballasts ist, den mir das Leben aufgebürdet hat). Letztendlich bin ich dankbar, dass ich eine halbwegs starke Resilienz habe.
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