Dienstag, 9. Februar 2016

Die Vermessung des toten Raums

emptyroom.gif

Quelle: Giphy / TechNoir

Langsam, bedächtig, so geräuschlos wie möglich, steige ich die knarrenden Holztreppen des Hausflurs hinauf zur Wohnung meiner Mutter. Es ist ein altes 2-Parteien-Haus in einer ergrauten Arbeitersiedlung, lange vor dem zweiten Weltkrieg erbaut. Nun, einige Wochen nach ihrem Tod, muss ich das tun, was getan werden muss. Meine Schwester scheut noch immer die Konfrontation mit den verlassenen Gegenständen, die schmerzliche Leere, die Entscheidungen. Aber es lässt sich nicht länger hinausschieben.

Nur wenige wissen, dass man neben Vermögen und Schulden auch Mietverträge erbt. Nicht jeder Vertrag endet mit dem Tod. Wenn man als Erbe nicht kündigt, läuft ein geerbter Mietvertrag auf unbestimmte Zeit weiter, Mietzahlungen sind fällig, obwohl die Einnahmeseite (z.B. Renten) meist sofort versiegt. Ich lese, dass so einige Erben schnell in die Verschuldung gerieten, weil sie diese Verpflichtung nicht im Blick hatten. Die gesetzliche Kündigungsfrist beträgt komfortable 3 Monate — so lange kassiert ein Vermieter die volle Miete und kann sich gemächlich um eine Neuvermietung kümmern. Also verhandele ich mit der Wohnungsbaugesellschaft um das Recht, selbst einen Nachmieter zu suchen. Sie stimmen zu. Das ist gut, jedoch erhöht es auch den Druck, die Wohnung schneller als geplant zu räumen.

Langsam, bedächtig, so respektvoll wie möglich, schreite ich durch die Zimmer, differenziere die Gegenstände, nehme sie in meine Hände, ermittle ihren emotionalen oder faktischen Wert, für meine Schwester, für mich, für Freunde oder gar fremde ebay-Käufer, enträtsele den Inhalt von Schränken und Schubladen, suche dazu nach passenden Erinnerungen und Geschichten in meinem Kopf. In ihrem Nachtschränkchen neben dem Bett finde ich einen Haarzopf und die Hornbrille ihrer nach dem Krieg verstorbenen Mutter in einem fast zerfallenen Briefumschlag. Nie hat sie uns den gezeigt. In einem Glas im Wohnzimmerschrank liegen die Gebisse mit den Goldzähnen meiner Opas, Omas, Uropas. In der Küche hängt die kleine Korkwand mit Zetteln, Zeitungsausschnitten, Bildern aus ihrem Leben: wir als kleine Kinder, Mutter und Vater, die Halbschwester, das Büro, der Garten, die Parties, eine Liste mit Geburtstagen der Freunde. "Schreib dein Leben auf ein Stück Papier, und warte, bis die Zeit vergeht!". Ich muss unwillkürlich an die alte Textzeile des Spliff-Songs denken.

Was also bleibt, wenn du fort bist? Wenn du verbrannt, verstreut, in einer Urne vergraben bist. Eine Korkwand, eine CD-Sammlung von André Rieu, die gesammelte Romanedition von Ken Follett. Was bleibt, wenn die Spuren deines Lebens verteilt, eingelagert, verkauft oder entsorgt wurden? Es bleiben die schönen Erinnerungen, die liebevollen Gedanken, die auf Familienfeiern erzählten Geschichten derer, die überbleiben. Bis auch sie sterben. Dann bist du ganz verschwunden, wie Tränen im Regen.

 I’ve seen things you people wouldn’t believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I’ve watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those moments will be lost in time, like tears in the rain.
Roy Batty

Zwei Wochen später ist die schwere Aufgabe vollbracht. Die Wohnungs- und Kellerräume sind leer. Der Sperrmüll hat die Eichenschrankwand und andere Dinge mitgenommen, die selbst die Caritas als Möbelspende abgelehnt hat. Ich habe ein junges sympathisches Nachmieterpärchen gefunden, die sich sehr über ihre erste Wohnung freuen, da sie (weil von schwarzer Hautfarbe) bislang immer Absagen bekamen.

Langsam, traurig, und gedankenverloren, gehe ich ein letztes Mal durch die leeren Räume. Die Wohnung meiner Mutter war die letzte Bindung an diesen Stadtteil, in dem ich einst groß geworden bin. Es gibt nun keinen Grund mehr, hierher zu kommen. Ein letztes Mal schaue ich durch das rückwärtige Fenster auf den grünen Innenbereich mit den uralten Buchen, auf die ich geklettert bin, als sie noch kleiner waren. Dann ziehe ich die Wohnungstüre zu und werfe meinen letzten Schlüssel in den Briefkasten. Und wieder schließt sich ein Kapitel.

Außergewöhnliches
Dinge, die gut sind
Entgleisungen
Gemalte Lebenserfahrung
Musik
Nachtgedanken
Neon-Award
Neon's Must-Have-Tools
Neon's Top10 List
Schöner Bloggen
Today I Learned
Wort des Tages
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
Meine Layouts
Meine bearbeiteten Skins
Hauptseite (Site.page)
Toolbar (Site.foundationToolbar)
Github Neon
Gitlab twoday.net
Font Awesome Cheatsheet v4