Der Tag, an dem ich Soljanka aß
Da waren wir also, kurz nach der Wiedervereinigung, in Berlin-Adlershof und halfen dem DFF, ein neues IT-System einzuführen, welches er dringend benötigte, um neues, westliches Regelwerk abzubilden. Dekadent übernachteten wir mitten auf dem Kudamm in einem netten kleinen Familienhotel, fuhren morgens in einem tiefer gelegten, schnellen BMW meines Hamburger Kollegen ostwärts, eingekreist von Millionen braun qualmender Trabbis, auf Straßen mit unzähligen Schlaglöchern, dazu laut Massive Attack's "Unfinished Sympathy" hörend. Oder The Farm's "All together now". Wie passend.
Das war die Zeit, als Elf99 noch existierte, aber der schwarze Kanal schon abgeschaltet war. Das Projektteam saß in diesem Büro eines ehemaligen Stasi-Oberen, eben jenes, wo noch der riesige schwere Tresor Platz nahm, dessen Tür nun offenstand und jetzt Wichtigeres als belastende Dossiers enthielt - unsere Lufthansa Joghurtvorräte vom Montag-Hinflug.
Lustige Dinge, die man dort schnell lernte:
- Die Raumtemperatur wird mangels Heizungsknopf durch das Öffnen und Schließen der Fenster reguliert, d.h. spätestens ab November ist es entweder scheisskalt oder scheisswarm im Raum
- Es braucht 4 DFF-Mitarbeiter, um eine Glühbirne im Projektraum zu wechseln
- Zum Dank für geschaffte Termine gibt es immer eine lange Rede und eine warme Flasche Rotkäppchen für jeden im Team.
So weit, so gut. Dann aber kam die Kantine. Und der Tag, an dem ich einen verbeulten und sicherlich geschichtsträchtigen Löffel meines höchst biegsamen DDR-Aluminium-Weichbestecks interessiert auf Entdeckungstour durch das DFF-Tagesgericht entsandte: Soljanka-Suppe. Es war Freitag. Und das Spiel begann.
Sind das nicht die Fleischklöße vom Montag? Nein, das ist der Gemüsetopf von Dienstag! Quatsch, ich schmecke den Fisch von Mittwoch! Schwimmt da ein Pommes oder ist das der Kartoffelauflauf von gestern?
"Ich habe HO-Plastiktüte", sage ich, und fische ein Stück derselben aus meiner russischen Mischsuppe. Alle feuern ihre Weichlöffel erschreckt zurück in die Soljanka. "Alternative Lösung?", fragt Marco kurz und bündig. "Tresorschrankjoghurts", sage ich. Wir grinsen uns an und gehen. Das war das letzte Mal, dass ich Soljanka aß.
Marco sah ich das letzte Mal zum erfolgreichen Projektabschluß. Wir konsumierten Wagenladungen von Rotkäppchen und freuten uns erschöpft über unseren Erfolg. Kurze Zeit danach ging er nach San Francisco und starb später an AIDS. Wenn ich an Soljanka denke, denke ich an ihn. Und umgekehrt. Und erst viel später begriff ich Idiot, warum er sich in den Berliner Discos nie wirklich für Frauen interessiert hatte.
Neon!