Die Vermessung des toten Raums

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Quelle: Giphy / TechNoir

Langsam, bedächtig, so geräuschlos wie möglich, steige ich die knarrenden Holztreppen des Hausflurs hinauf zur Wohnung meiner Mutter. Es ist ein altes 2-Parteien-Haus in einer ergrauten Arbeitersiedlung, lange vor dem zweiten Weltkrieg erbaut. Nun, einige Wochen nach ihrem Tod, muss ich das tun, was getan werden muss. Meine Schwester scheut noch immer die Konfrontation mit den verlassenen Gegenständen, die schmerzliche Leere, die Entscheidungen. Aber es lässt sich nicht länger hinausschieben.

Nur wenige wissen, dass man neben Vermögen und Schulden auch Mietverträge erbt. Nicht jeder Vertrag endet mit dem Tod. Wenn man als Erbe nicht kündigt, läuft ein geerbter Mietvertrag auf unbestimmte Zeit weiter, Mietzahlungen sind fällig, obwohl die Einnahmeseite (z.B. Renten) meist sofort versiegt. Ich lese, dass so einige Erben schnell in die Verschuldung gerieten, weil sie diese Verpflichtung nicht im Blick hatten. Die gesetzliche Kündigungsfrist beträgt komfortable 3 Monate — so lange kassiert ein Vermieter die volle Miete und kann sich gemächlich um eine Neuvermietung kümmern. Also verhandele ich mit der Wohnungsbaugesellschaft um das Recht, selbst einen Nachmieter zu suchen. Sie stimmen zu. Das ist gut, jedoch erhöht es auch den Druck, die Wohnung schneller als geplant zu räumen.

Langsam, bedächtig, so respektvoll wie möglich, schreite ich durch die Zimmer, differenziere die Gegenstände, nehme sie in meine Hände, ermittle ihren emotionalen oder faktischen Wert, für meine Schwester, für mich, für Freunde oder gar fremde ebay-Käufer, enträtsele den Inhalt von Schränken und Schubladen, suche dazu nach passenden Erinnerungen und Geschichten in meinem Kopf. In ihrem Nachtschränkchen neben dem Bett finde ich einen Haarzopf und die Hornbrille ihrer nach dem Krieg verstorbenen Mutter in einem fast zerfallenen Briefumschlag. Nie hat sie uns den gezeigt. In einem Glas im Wohnzimmerschrank liegen die Gebisse mit den Goldzähnen meiner Opas, Omas, Uropas. In der Küche hängt die kleine Korkwand mit Zetteln, Zeitungsausschnitten, Bildern aus ihrem Leben: wir als kleine Kinder, Mutter und Vater, die Halbschwester, das Büro, der Garten, die Parties, eine Liste mit Geburtstagen der Freunde. "Schreib dein Leben auf ein Stück Papier, und warte, bis die Zeit vergeht!". Ich muss unwillkürlich an die alte Textzeile des Spliff-Songs denken.

Was also bleibt, wenn du fort bist? Wenn du verbrannt, verstreut, in einer Urne vergraben bist. Eine Korkwand, eine CD-Sammlung von André Rieu, die gesammelte Romanedition von Ken Follett. Was bleibt, wenn die Spuren deines Lebens verteilt, eingelagert, verkauft oder entsorgt wurden? Es bleiben die schönen Erinnerungen, die liebevollen Gedanken, die auf Familienfeiern erzählten Geschichten derer, die überbleiben. Bis auch sie sterben. Dann bist du ganz verschwunden, wie Tränen im Regen.

 I’ve seen things you people wouldn’t believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I’ve watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those moments will be lost in time, like tears in the rain.
Roy Batty

Zwei Wochen später ist die schwere Aufgabe vollbracht. Die Wohnungs- und Kellerräume sind leer. Der Sperrmüll hat die Eichenschrankwand und andere Dinge mitgenommen, die selbst die Caritas als Möbelspende abgelehnt hat. Ich habe ein junges sympathisches Nachmieterpärchen gefunden, die sich sehr über ihre erste Wohnung freuen, da sie (weil von schwarzer Hautfarbe) bislang immer Absagen bekamen.

Langsam, traurig, und gedankenverloren, gehe ich ein letztes Mal durch die leeren Räume. Die Wohnung meiner Mutter war die letzte Bindung an diesen Stadtteil, in dem ich einst groß geworden bin. Es gibt nun keinen Grund mehr, hierher zu kommen. Ein letztes Mal schaue ich durch das rückwärtige Fenster auf den grünen Innenbereich mit den uralten Buchen, auf die ich geklettert bin, als sie noch kleiner waren. Dann ziehe ich die Wohnungstüre zu und werfe meinen letzten Schlüssel in den Briefkasten. Und wieder schließt sich ein Kapitel.

Ich möchte einfach nur eine Umarmung hierlassen. *drück*
Danke, Fräulein Caliente, und ich drück mal zurück, verbunden mit dem Wunsch, dass Sie sich wenigstens ab und zu ein wenig Freiheit von der Verantwortung und Daueraufmerksamkeit erkämpfen können, die Ihre Kinder jetzt und (ja, es ist leider so) noch so einige Jahre benötigen.
Jau.
Genau so war es.
Lange her.
Und auch in der Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet.
Du hast diese Stimmung so treffend beschrieben: die Gedanken, die man hat, wenn man die "Habseligkeiten" eines Menschen, der verstorben ist, zusammenräumt.
Für die Mutter waren sie wichtig.
Wichtige Dinge aus ihrem Erlebten.
Und das Wegräumen schmerzt und setzt noch einmal Erinnerungen frei.
Und man denkt an sein eigenes (Ab-)Leben und die Dinge, die jemand einmal "entsorgen" wird.
Wenn man Glück hat, wird es jemand tun, den diese Habseligkeiten nicht unberührt lassen.
Danke für diesen gefühlvollen Text.
Danke Lo! Das freut mich sehr, dass du Deine eigene Erfahrung in dem Text wiedergefunden hast.
:-)
Auch nun nach fast vier Jahren ist es oftmals noch unwirklich für mich, dass es die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, nicht mehr gibt. Dass der Menschen, der seit (fast) Beginn meines Lebens da war, für mich da war, nicht mehr da ist. Es gibt so vieles, was man seitdem gern geteilt hätte, was man gern zusammen gemacht hätte, worüber man gern gesprochen hätte, aber es bleiben einzig die Gedanken. Die jedoch bleiben.

Das stimmt, Frau Araxe. Und es sind nicht nur die ungeteilten Erlebnisse und Entwicklungen, sondern oft auch die ungestellten Fragen, die nun nie mehr eine Antwort erhalten können.

fotokiste.jpgMeine Mutter bewahrte viele histo­rische Familien­bilder unsortiert in einer großen alten Nürn­berger Leb­kuchen­dose auf, so eine wie diese. Oft sagte sie: "Wenn wir die Zeit haben, setzen wir uns mal zusammen und schauen die Bilder an, damit ihr wisst, wer das ist."
Aber die Zeit ergab sich nie. Nun sitzen meine Schwester und ich vor einem Berg alter Bilder und rätseln, wer darauf zu sehen ist. Sie war die Einzige, die Letzte, die darüber noch hätte aufklären können. Ohne das zugehörige Wissen haben die Bilddokumente keinen Wert mehr, und es ist sehr schade, dies nicht mehr korrigieren zu können.

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